Was sind Geisteswissenschaften und wozu sollte man sie heute (noch) betreiben? Worin liegt ihr ästhetisch-politischer Sinn? Wie lassen sich geisteswissenschaftliche Vorgehensweisen mit Fragen der Theaterpraxis verknüpfen? Solche Fragen versucht der Kurs im Rahmen eines kursorischen Überblicks geisteswissenschaftlicher Grundbegriffe aufzuwerfen. Dabei wird eine praxeologischeMethode verfolgt: Wir entwickeln gemeinsam ein ebenso vorläufiges wie flexibles geisteswissenschaftliches Grundvokabular aus einer Analyse des geisteswissenschaftlichen Aktes heraus, anstatt es diesem vorab in Form abstrakter Begriffe vorauszusetzen. Drei Fragen leiten uns dabei an: Wie kann ich eine adäquate geisteswissenschaftliche Forschungsfrage entwickeln (I. ›Denken‹)? Welche Methode wende ich an, um dieser Frage nachzugehen (II. ›Forschen‹)? In welcher Weise stelle ich die Ergebnisse meiner geisteswissenschaftlichen Forschungsarbeit abschließend schriftlich dar (III. ›Schreiben‹)? 

Die Gemeinschaft zerfällt. Zugleich setzt sie sich immer wieder neu zusammen und nimmt ungeahnte Konsistenzen an. Was aber ist eine Gemeinschaft? Und worin unterscheidet sie sich von einer Gruppe, einem Ensemble, dem Kollektiv? Das Seminar fragt nach aktuellen Potentialen gemeinschaftlichen Handelns und nach den von diesen ausgehenden Ästhetiken und Politiken. Zur Kronzeugin wird dabei die theatrale Praxis, die wohl wie niemand anderes sonst etwas zur Frage des Gemeinsamen, der Gruppe und der unablässigen Bewegung der ›Dividuation‹ mitzuteilen hat. Ausgehend von kanonischen Texten der französischen Differenzphilosophie (Nancy, Blanchot, Deleuze) soll die Perspektive gezielt auf feministische, queere und postkoloniale Gemeinschaftstheorien geöffnet werden.


›Romantisch‹ zu sein heißt, sich in Ausweglosigkeiten zu bewegen. 

50 Jahre Anti-Ödipus – Kapitalismus und Schizophrenie

Ein paradisziplinäres Symposium 

Hochschule für Musik und Theater Hamburg, Campus Barmbek, Kleine Bühne 18.11.2022

 

Der globale Kapitalismus strauchelt. Er wird von einem Ineinanderspiel sich intensivierender Krisen und der Ausweitung imperialer Kriege gebeutelt, das die Beziehung von ›Wunsch‹ und ›Realität‹ immer weiter auseinanderdriften lässt. Eine schizoanalytische Decodierung der Gegenwart erscheint daher drängender als je zuvor – politisch, ästhetisch und ökonomisch. 

Das eintägige Symposium versucht hier, Schneisen einer künstlerischen Forschung zu schlagen, in der Aspekte von Philosophie, Musik und Theater zusammenfallen. Erörtert werden Gedankenfiguren aus dem Buch Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie von Gilles Deleuze und Félix Guattari, das in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag feiert. In Bezug auf eine Kritik und Klinik der aktuellen gesellschaftlichen Situation hält die kollaborativ erarbeitete Argumentation der beiden Autoren weiterführende Konzepte bereit. Sei es die zunehmende »Deterritorialisierung des Sozius«, eine »semiotische Maschinisierung des Subjekts« oder die »Decodierung der Kapital- und Zeichenströme« – mit und durch Anti-Ödipus lässt sich vieles, das sich heute in politisch-ästhetischer Hinsicht ereignet, fassen und weiterdenken.

Gemäß der methodisch vielstimmigen Architektur des Buches ist auch das Programm des Symposiums ›paradisziplinär‹ angelegt. Tagsüber wird in einem Theorie-Workshop das begriffliche Terrain abgesteckt, das durch den Anti-Ödipus heute eröffnet wird. Vorträge von Gastreferent:innen wechseln sich dabei mit Diskussionen aller Beteiligten ab, um die aktuelle Relevanz schizoanalytischer Begriffe zu entschlüsseln. Einen Kontrapunkt zum Workshop bildet am Abend ein von Studierenden der HfMT erarbeitetes musikalisch-szenisches Performance-Konzert. Neben Werken aktueller Musik und dramatischen Experimenten, die sich aus heutiger Sicht auf den Anti-Ödipus beziehen, werden Kompositionen und Texte eingebunden, die im Buch selbst Erwähnung finden oder seiner Argumentation nahestehen.


Im Anschluss an das Seminar »Das postödipale Theater« besteht für weiterführend Interessierte die Möglichkeit in eine genauere Lektüre des Buches »Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie« von Gilles Deleuze und Félix Guattari einzusteigen und sich dessen theoretisches Vokabular systematisch zu erschließen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den zahlreichen literarischen, musikalischen und theatralischen Bezügen innerhalb des Buches, die mit philosophischen, soziologischen und psychoanalytischen Themenfeldern verschränkt sind. Im Zusammenhang der gemeinsamen Lektüre soll unter anderem das Symposium anlässlich des 50-jährigen Erscheinens des Buches am 18.11.2022 an der Theaterakademie der HfMT gemeinsam vor- und nachbereitet werden.

Symbolische Ordnungen, die in ihrer Logik auf Aspekte des sogenannten Ödipus-Komplex zurückzuführen sind, so wie er von Sigmund Freud in seiner psychoanalytischen Theorie beschrieben wurde, scheinen ihre Ressourcen durchgebracht zu haben. Patriarchale Strukturen zerfallen, autoritäre Begehrlichkeiten brechen ein, um sich lediglich in Form ihrer bizarren Widergänger (Populismus, Sexismus, territorialer Größenwahn) am Leben zu halten. Folgt man der ›Ljubljaner Schule‹ rund um Theoretiker:innen wie Slavoj Žižek, Alenka Zupančič und Mladen Dolar, dann sind die westlich-kapitalistischen Gesellschaften seit geraumer Zeit dabei, in ein ›postödipales‹ Stadium einzutreten, in dem sich die Über-Ich-Struktur der Subjekte nicht länger entlang von Verboten herausbildet, sondern durch einen Imperativ geleitet wird, der uns in einer paradoxen Weise zu genießen heißt. 

Das Seminar fragt, inwiefern sich die Diagnose einer ›postödipalen Gesellschaft‹ auf eine aktuelle Ästhetik und Politik des Theaters beziehen lässt. Dabei soll eine eingehende Spurenlese ödipaler Motive in der Theater- und Literaturgeschichte (Sophokles, Voltaire, Artaud, Duras u.v.m.) mit einem Rekurs auf das Buch Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie von Gilles Deleuze und Félix Guattari verbunden werden, welches in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag feiert. Einen weiteren Bezugspunkt bilden zwei kürzlich erschienene Sammelbände zum Thema, die den postödipalen Diskurs zum ersten Mal in deutscher Sprache übersetzt zugänglich machen.